18. März 2006 Lieder zwischen Liebe und Ver-/Lust Rezension zum Konzert in der Philpp-Melanchthon-Kirche von Rainer Schöbe Dass die eigentliche Pflege zeitgenössischer Musik abseits der großen Konzerthäuser, und damit auch abseits der Kenntnis eines Großteils des Publikums, stattfindet, ist keine Neuigkeit. Dass es jedoch gelingt, eine kleine, feste Gemeinde auf derartiges Repertoire erfolgreich zu „trimmen“ zeigt Konsequenz. Am Beispiel der Konzertreihe der Melanchthon-Kirche in Dessau Alten, welche vom Komponisten Jean Francois de Guise organisiert wird, konnte man am vergangenen Samstag genau dies erleben. Die Altistin Daniela-Stefanie Kappel, ihres Zeichens Mitglied im Ensemble der Hamburgischen Staatsoper und Stefan Kozinski, Solorepetitor am Anhaltischen Theater, gestalteten einen großen Liederabend mit einem erfreulich unkonventionellen Programm, welches Werke von Bach bis Britten, von der Johannespassion bis hin zu Chansons einbezog. Besonderes Augenmerk verdiente jedoch die Uraufführung des Zyklus’ „Erinnerungen“ von Jean Francois de Guise. Vor allem diese zeigte, auf welchem Niveau die Interpreten musizierten und damit beispielhaft für das aufgehende Erfolgsrezept der Reihe stehen. Daniela-Stefanie Kappel überraschte mit einer enormen stimmlichen Farbpalette, gekoppelt mit einem wahrhaft riesigen Tonumfang, der von tenorhafter Tiefe bis hin zu sopranistischer Höhe reicht. Registerbrüche, Tönestemmen und technische Probleme sind fremd. Durch das Fehlen dieser Hürden entsteht Raum für bewusste musikalische Gestaltung, für genreübergreifendes Repertoire, für gelebte Emotion. Dabei befand sich Ihr Klavierbegleiter Stefan Kozinski stets auf Augenhöhe mit ihr, lebte die Lieder aus, gestaltete sie zu Miniaturopern. Allein dies war bereits beglückend, vor allem für Jean Francois de Guise, dessen kurzes Werk auf Texte von Dagmar Wenndorff zeigte, dass Gegenwartsmusik keine Doktrinen braucht, dass man alle Errungenschaften der musikalischen Entwicklungen nutzen kann, aber weder sollte noch muss. Er missbrauchte die literarische Vorlage nicht, demontierte nicht den Inhalt, sondern glaubte an die Stärken dieser Lyrik. Das Resultat war eine klingende Einladung zum persönlichen Einfühlen in das Phänomen Erinnerung und dessen mögliche Auswirkungen auf das menschliche Verhalten, zum Finden eigener Assoziationen. Daneben verblassten jedoch die anderen Werke keinesfalls. Mit Brahms’ „Sapphischer Ode“, „in stiller Nacht“, der „Zueignung“ von Richard Strauss, Gustav Mahlers „Erinnerung“ nebst vielen weiteren Liedern setzte man unglaublich intensive Kompositionen auf das Programm, kleine Welten mit Höhen und Tiefen, traumatischen Wirkungen, was wohl an keinem der zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörer spurlos vorüberging und in berechtigten Jubel gipfelte, der mit Chansons als Zugaben dankend angenommen wurde und damit vielleicht zum Grundstein einer beständigen Zusammenarbeit dieser Gefühlsmusiker wurde. Man kommt nicht umhin, die Konzertreihe fördern und weiterverfolgen zu wollen. Ungewohntes und manchmal Unbequemes weckt Neugier und man denkt wieder über Schönheit und Wahrheit, der häufigen und wichtigen Diskrepanz in Neuer Musik nach.